Lucas Fischer (22 Jahre) turnt (und singt) trotz Epilepsie in der Weltspitze

Interview von D. Schmidt (Epilepsie-LV Baden-Württemberg)  mit  Lucas Fischer (Kunstturner aus der Schweiz) im Mai 2013

 

Ist es für Dich in Ordnung wenn ich Dich duze?


Ja, klar!


Zuerst möchten ich Dir ganz herzlich zu Deiner Silbermedaille am Barren bei der Kunstturn-Europameisterschaft in Moskau gratulieren!!


Vielen Dank!


Im Folgenden möchte ich Dir Fragen zu Dir und Deiner persönlichen Erfahrung zur Krankheit Epilepsie stellen.

Seit wann  bist Du  Kunstturner und wann hast Du Epilepsie bekommen?


Mit 5 Jahren habe ich angefangen zu trainieren. Was zuerst eher spielerisch begann, wurde bald zum ernstzunehmenden Hobby neben Schule und Ausbildung und unterdessen zu meinem Beruf.  Meinen ersten epileptischen Anfall hatte ich im Sommer 2010.


Wie und wann bist Du zum Singen gekommen?


Schon als kleines Kind habe ich immer gesungen. Dass daraus einmal mehr werden würde, hätte ich nie gedacht. Im Herbst 2011 durfte ich nach einem erneuten epileptischen Anfall nicht an den Weltmeisterschaften in Tokio teilnehmen und konnte mich deswegen auch nicht für die olympischen Spiele in London qualifizieren. Das war für mich eine sehr schwere Zeit, ein Tiefpunkt in meiner Karriere. Ich musste etwas finden, bei dem ich meine Gefühle und Emotionen verarbeiten konnte. So besuchte ich im Winter 2011 meine erste Gesangsstunde. Unterdessen nehme ich regelmässig Gesangsunterricht und hatte auch schon viele Auftritte als Sänger. Das ist für mich unglaublich toll und erfüllend! Singen hat mich «gerettet» und wieder zurück in die Kunstturn-Halle gebracht!


Was für eine Epilepsie hast Du und wie wird sie behandelt? Bist Du anfallsfrei mit Medikamenten oder besteht bei Dir u. U. sogar Aussicht auf Heilung?


Ich habe die "Grand-Mal"-Epilepsie und nehme jetzt täglich morgens und abends Medikamente. Regelmässig gehe ich zur ärztlichen Kontrolle, um meinen Werte zu kontrollieren. Ich bin seit fast 1 ½  Jahren anfallsfrei! Aussicht auf Heilung besteht bei mir eigentlich nicht, weil ich erst als Erwachsener an Epilepsie erkrankt bin!


Epilepsie und Kunstturnen passen auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammen. Dennoch vereinst Du diese Gegensätze als Person.  Wie schaffst Du es als  professioneller Kunstturner Dein Leben mit Epilepsie zu vereinbaren?

 

Am Anfang war das alles natürlich unheimlich schwierig. Ich wusste nicht ob und wie es für mich als Kunstturner überhaupt weitergeht. Die Krankheit war für mich ein grosser Schock.  Turnen ist meine Leidenschaft  und bestimmt im Moment meine Ziele im Leben! Ich habe versucht einfach das Beste daraus zu machen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken und in Selbstmitleid zu versinken. Mittlerweile habe ich einen guten Umgang damit gefunden! Ich kann zwar nicht mehr am Reck turnen. Die Übung an diesem Gerät  enthält zu viele Drehungen ohne Pausen. So fehlen dazwischen kurze Momente, um mit meinen Augen einen Punkt zu fixieren. Aber- ich habe mich damit arrangiert: "Lieber etwas aufgeben, statt als alles!"


Hast Du  persönliche - von der ärztlichen Behandlung unabhängige - Strategien im Umgang mit Deiner Epilepsie entwickelt?  Wenn ja, welche sind das?


Ja, ich habe das Gefühl, das meine Epilepsie-Erkrankung auch ein wenig mit Stress und Nervosität zu tun hat. Deshalb mache ich intensives Mentaltraining, um dies vor Wettkämpfen oder anderen Herausforderungen so gut wie möglich in den Griff zu bekommen -  und, das hat geklappt! Auch durch meine Auftritte als Sänger habe ich sehr gut gelernt, mit meiner Nervosität umzugehen.


Bist Du durch die Medikamente gehandicapt? (müde, langsam)

 

Ja, ganz am Anfang war es recht schlimm. Ich war immer müde, fast ein wenig depressiv und habe viel zugenommen. Aber nach etwa einem halben Jahr, als die Medikamente gut eingestellt waren und ich mich daran gewöhnt hatte, ging das wieder vorbei. Jetzt kann ich gut damit umgehen.



Hast Du während des Turnens oder Singens schon mal einen Anfall gehabt? Wenn ja, wie hast Du das erlebt und verarbeitet?


Ich hatte 3 Anfälle nach Reckübungen (daher turne ich unterdessen kein Reck mehr) und einen an einem Wettkampf etwa 5 Minuten nach der Bodenübung! Es war nicht einfach das zu verarbeiten, zuerst hatte ich danach auch ein wenig mehr Angst! Aber glücklicherweise ist dieses Angstgefühl bei mir immer schnell verflogen! Und sowieso - wenn ich immer daran denken würde, dann könnte ich sicher nicht mehr auf so hohem Niveau turnen.

Mittlerweile weiß die gesamte Öffentlichkeit um Deine Epilepsie, was war Dein Antrieb für diesen transparenten Umgang?

 

Nach den verpassten Highlights (WM Tokio und Olympische Spiele in London) hatte ich eine schwere Zeit und wollte nicht mehr schweigen. Ich musste über meine Epilepsie sprechen und nicht Ausreden erfinden, warum ich dies oder jenes nicht mache. Ich bin ein offener Mensch und kommuniziere gerne. So lag es mir nicht, meine Probleme «in mich hinein zu fressen». Ich zeige meine Gefühle und das Singen hilft mir, meine Emotionen zu verarbeiten und das seelische Gleichgewicht wieder zu finden!
Mittlerweile ist es  so, dass ich Menschen Mut machen möchte, ihre Ziele zu verfolgen, auch wenn es schwierig ist. Es gibt immer einen Weg, wenn man nur will!

 

Dein offener Umgang mit dem Thema ist bewundernswert, da die Krankheit immer noch als Tabuthema gilt. War das der Grund für Dein Outing?

 

Ja irgendwie schon! Am Anfang dachte ich auch, ich wolle niemandem Angst machen und habe deshalb nicht darüber gesprochen. Ich hatte Respekt vor der Reaktion der Leute! Aber unterdessen ich stehe zu meiner Erkrankung. Epilepsie gehört jetzt zu mir und zu meinem Leben. Ich muss mich dafür nicht schämen. Ich spreche über die Epilepsie, weil ich sie akzeptiert habe und ich gehe meinen Weg mit der Epilepsie, egal was andere sagen!

 

 

Warst Du seit Ausbruch Deiner Epilepsie immer schon so offen im Umgang mit der  Krankheit? Wie gehen die Sportkameraden und Dein Umfeld  mit dieser - Deiner - Wahrheit um?

 

Nein, am Anfang nicht! Ich hatte Angst, was andere darüber denken könnten und ich wurde in meinem sportlichen Umfeld gebeten, nichts zu sagen! Mittlerweile gehen alle sehr gelassen damit um. Am Anfang war schwierig für mich, meine Familie, meine Freunde und meine Trainer, aber jetzt haben sich alle daran gewöhnt und es ist nicht mehr gross Thema! Dafür bin ich allen riesig dankbar!

 

Woher nimmst Du die Energie Dich jedes Mal wieder aufzurappeln, sei es durch einen Anfall oder durch eine Verletzung?

 

Ich kämpfe für meine Ziele und Träume. Wenn es irgendwo noch eine Möglichkeit gibt, bin ich zuversichtlich und ich will nicht aufgeben! Durch all das bin ich auch innerlich gewachsen und eine starke Person geworden. Die Auseinandersetzung mit meiner Krankheit und den vielen Verletzungen ist für mich ein ständiger Lernprozess!
Ich habe gelernt mich nicht im Selbstmitleid zu wälzen, sondern mich immer wieder aufzurappeln und nach vorne zu blicken! Ich war schon mal kurz davor das Handtuch zu werfen. Ja, ich habe meinen eigenen Weg gefunden. Das hat seine Zeit gebraucht, aber es hat sich gelohnt und es lohnt sich noch immer. Kunstturnen sehe ich als Herausforderung und Ziel, Singen als Ausgleich!

 

Ist das Singen für Dich zusätzliche Therapie?

 

Ja, es hilft mir unheimlich! Ich kann alle meine Sorgen in die Songs verpacken. Mir geht es gut, weil mir das Singen hilft vieles zu verarbeiten und die innere Balance zu finden.


Gibt es Dinge aus dem Bereich Kunstturnen, die Dir  bei der Bewältigung der Epilepsie helfen?

 

Ja, dass ich trotz Epilepsie weiter auf höchstem Niveau Kunstturnen kann, hilft mir, die Krankheit zu bewältigen und positiv mit ihr zu leben!

 

Was sind Deine Pläne für die Zukunft und wie willst Du diese mit  Deiner Epilepsie verbinden?


Im Herbst möchte ich mich an den Weltmeisterschaften in Antwerpen (BEL) mit der Weltspitze messen! Mich nimmt es unheimlich wunder, wo ich mit meiner Leistung da stehe! Mein ganz grosser Traum und mein grösstes Ziel, ist die Teilnahme an den olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016!
Im Moment ist das Singen mein Ausgleich. Für die Zukunft nach meiner Zeit als Kunstturner, möchte ich Singen und Artistik verbinden und mir so ein neues Standbein schaffen. Wäre schön, wenn mir das gelänge, aber noch möchte ich nicht zuviel darüber verraten.             

Und natürlich - irgendwann nach meiner Kunstturner-Laufbahn  würde ich gerne eine CD aufnehmen und in die Lieder meine Gefühle und Erlebnisse verpacken!


Nun habe  ich noch  vier Satzanfänge, welche Du nun vervollständigen sollst:

 

- Meine eigentliche Stärke ist ...

 

…niemals aufzugeben und immer nach vorne zu schauen, egal wie schwierig es manchmal ist.

 

- Meine große Leidenschaft ist ...



...das Turnen um mich auszutoben und artistische Höchstleistungen zu vollbringen und das Singen um meinen Emotionen freien Lauf lassen – die grösste Freude dabei, die Menschen mit beidem zu berühren.

 

- Wenn ich könnte, würde ich ...

 

...jedem Menschen mit meiner Einstellung Mut machen, niemals aufzugeben, egal in welch schwieriger Lebenssituation er sich gerade befindet.

 

- Woran ich an mir noch arbeiten könnte, ist ...

 

...manchmal ein wenig mehr Selbstvertrauen an den Tag zu legen.

 

Vielen Dank lieber Lucas für das Interview, der Epilepsie-Landesverband Baden-Württemberg wünscht Dir weiterhin viel Kraft und Leidenschaft bei all Deinen Vorhaben.

 

…gerne geschehen, ich danke auch.